Cannabis-Verordnung
Gesetzlich Krankenversicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung haben Anspruch auf die Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder standardisierten Extrakten sowie auf Arzneimittel mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon. Bei der Verordnung gilt es verschiedene Voraussetzungen zu beachten (§31 SGB V).
An dieser Stelle möchten der Medizinische Dienst Westfalen-Lippe, die Verbände der Krankenkassen in Westfalen-Lippe und die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) Sie dabei unterstützen, Ihre Verordnungen von Cannabinoid-Arzneimitteln im Vorfeld sorgfältig und gemäß den aktuellen rechtlichen Rahmenbedingungen zu planen. Ziel ist es, Ihnen praxisnahe Informationen und Hilfestellungen zur Verfügung zu stellen.
Prüfanträge vermeiden
Um Einzelprüfanträge zu vermeiden, müssen die nachfolgend aufgeführten Kriterien zur Verordnung kumulativ erfüllt und das Wirtschaftlichkeitsgebot beachtet werden.
Die nebenstehende Grafik ermöglicht es Ihnen einzuschätzen, was Sie bei der jeweiligen Verordnung für den Patienten beachten müssen. Bei den grün markierten Kästchen benötigen Sie vorab keine Genehmigung; bei den hellgelb markierten Kästchen benötigen Sie eine Genehmigung der jeweiligen Krankenkasse zum Off-Label-Use. Sie können dafür einen standardisierten Arztfragebogen nutzen.
Kriterien für die Genehmigung
Der Gesetzgeber hat den Leistungskatalog in der gesetzlichen Krankenversicherung um Cannabinoide erweitert*. Dabei handelt es sich um Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und Arzneimittel mit den Wirkstoffen Dronabinol und Nabilon. Nach § 44 Absatz 2 AM-RL ist ein Mindest-THC-Gehalt von Cannabisarzneimittel für die Verordnungsfähigkeit festgelegt worden (aktuell mit Beschluss des G-BA vom 16. März 2023 sind dieses 0,2 Prozent THC).
Bis September 2024 unterlagen die Verordnungen einem Genehmigungsvorbehalt für alle Ärzte. Nach Beschluss des G-BA** wurde festgelegt, bei welcher Qualifikation des verordnenden Arztes der Genehmigungsvorbehalt der Krankenkasse entfällt (siehe Frage: Welche Ärzte benötigen keine Genehmigung vor einer Verordnung, können diese aber unverändert beantragen?).
Dadurch haben sich jedoch die medizinischen und wirtschaftlichen Kriterien für eine Verordnung nicht verändert: Es besteht ein Regressrisiko, wenn die Voraussetzungen für die Verordnung von Cannabinoiden nicht erfüllt sind und das Wirtschaftlichkeitsgebot nicht beachtet wird. Um dieses Risiko zu vermeiden, können qualifizierte Ärzte dennoch nach der Arzneimittel-Richtlinie einen Antrag auf Genehmigung der Verordnung bei der Kasse stellen. Dieses gilt auch, wenn der Arzt nicht der Erstverordnende ist, sondern die Behandlung von einem berechtigten Arzt übernommen hat.
*§31 Abs. 6 SGB V
** Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) in §4a und in Abschnitt N in §§44 bis 45
Aus dem §31 Absatz 6 SGB V ergibt sich, dass für eine Verordnung
- eine schwerwiegende Erkrankung vorliegen muss,
- eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder nicht zur Anwendung kommen kann,
- eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
Das Bundessozialgericht hat mit vier Urteilen am 10.11.2022 diese drei Kriterien dann noch einmal näher ausformuliert:
- Danach liegt eine schwerwiegende Erkrankung vor, wenn diese lebensbedrohlich ist oder aber die Lebensqualität nachhaltig beeinträchtigt. Der Schweregrad der Erkrankung ist zu beschreiben, insbesondere vor dem Hintergrund der Auswirkungen der Einschränkungen auf die Aktivitäten und die Teilhabe. Eine Lebensqualität ist nachhaltig beeinträchtigt, wenn der Betroffene überdurchschnittlich beeinträchtigt ist. Dieses ist der Fall, wenn analog zum Grad der Schädigungsfolgen (GdS) eine Einschränkung von 50 vorliegt oder die Beeinträchtigung des täglichen Lebens einem GdS von 50 entspricht.
In der Genehmigung muss daher unbedingt zusätzlich zur Diagnose die Beeinträchtigung des Patienten beschrieben werden.
- Die verfügbaren Standard-Behandlungen sind durch den verordnenden Arzt umfassend zu benennen und zu begründen. Dieses hat der MD weiter konkretisiert, so dass alle Stoffklassen einzuschätzen sind und nicht alle Arzneimittel einer Wirkstoffklasse. So wäre beispielsweise auch bei der Verordnung von Opiaten eine Opiatrotation zu bewerten, jedoch nicht sämtliche Opiate, wenn eine Opiatrotation durchgeführt wurde. Es zählen nicht nur medikamentöse, sondern auch nichtmedikamentöse Therapien zu den Alternativen und sind entsprechend einzuschätzen. Nach gefestigter Rechtsprechung ist beispielsweise in der Regel eine stationäre multimodale Schmerztherapie chronischen Schmerzpatienten zumutbar und entspricht auch dem allgemeinen Behandlungsstandard.
- Die Voraussetzungen für eine spürbar positive Einwirkung sind gering. Es reicht die Einwirkung auf schwerwiegende Krankheitssymptome aus. Letztendlich muss sich aus der Evidenz ergeben, dass die Behandlung mit Cannabis mehr nützt als schadet. Dem Antrag sind daher außerdem Angaben zur Evidenzlage beizufügen, die zu Ihrer Entscheidung geführt haben, dass eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
Weitere Informationen erhalten Sie auf der Seite des Medizinischen Dienstes Bund.
Der Medizinische Dienst beurteilt auf Grundlage der Begutachtungsanleitung „Sozialmedizinische Begutachtung von Cannabinoiden nach §31 Abs. 6 SGB V".
Das zuständige fachliche Gremium des Medizinischen Dienstes, die Sozialmedizinische Expertengruppe 6 „Arzneimittelversorgung" (SEG 6), hat zur Prüfung durch den Medizinischen Dienst eine Informationsveranstaltung durchgeführt. Diese ist in der Mediathek der SEG 6 abrufbar.
Die Krankenkassen überprüfen, ob die oben aufgeführten Kriterien kumulativ erfüllt und plausibel sind und die Wahl der Darreichungsform gemäß des Wirtschaftlichkeitsgebots §12 SGB V, der AM-RL §4a Abschnitt N §§44 bis 45 und der geltenden Gesetzgebung und Rechtsprechung (BSG) erfolgt ist (Mittel der Wahl sind Sativex® und Dronabino; Extrakte und Blüten sind nur dann verordnungsfähig, wenn die Voraussetzungen der Gesetzgebung und aktuellen Rechtsprechung inkl. der Arzneimittel-Richtlinie vorliegen). Dies gilt auch bei Umstellungen der Darreichungsformen. Nur dann können die Kosten für eine Behandlung mit Cannabinoiden übernommen werden.
Eine Verordnung muss nach dem BSG-Urteil vom 10.11.2022 dem Antrag nicht beigelegt werden. Jedoch sind sämtliche Angaben, die für eine Verordnung erforderlich sind, in dem Antrag beizugeben. Da es sich in der Regel um Rezeptur-Arzneimittel handelt, sind diese Angaben umfangreich. Sie werden jedoch auch im Arztfragebogen abgefragt.
Da bei der ersten Verordnung in der Regel ein Antragsverfahren für die Genehmigung bei der Krankenkasse vorgesehen ist, beziehen die Krankenkassen das sozialmedizinische Wissen des Medizinischen Dienstes in den geeigneten Fällen ein. Jedoch hat der Gesetzgeber durch eine weitere Änderung des §31 SGB V gewisse Ärzte von der Antragspflicht ausgenommen.
Nach Beschluss des G-BA wurde festgelegt, bei welcher Qualifikation des verordnenden Arztes der Genehmigungsvorbehalt der Krankenkasse entfällt. Gelistet sind insgesamt 16 Facharzt- und Schwerpunktbezeichnungen sowie 5 Zusatzbezeichnungen, nachzulesen in der Anlage XI AM-RL.
Facharzt- und Schwerpunktbezeichnungen
- Facharzt für Allgemeinmedizin
- Facharzt für Anästhesiologie
- Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe mit Schwerpunkt Gynäkologische Onkologie
- Facharzt für Innere Medizin
- Facharzt für Innere Medizin und Angiologie
- Facharzt für Innere Medizin und Endokrinologie und Diabetologie
- Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie
- Facharzt für Innere Medizin und Hämatologie und Onkologie
- Facharzt für Innere Medizin und Infektiologie
- Facharzt für Innere Medizin und Kardiologie
- Facharzt für Innere Medizin und Nephrologie
- Facharzt für Innere Medizin und Pneumologie
- Facharzt für Innere Medizin und Rheumatologie
- Facharzt für Neurologie
- Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin
- Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Zusatzbezeichnungen
- Geriatrie
- Medikamentöse Tumortherapie
- Palliativmedizin
- Schlafmedizin
- Spezielle Schmerztherapie
Bestehen jedoch Unsicherheiten, können auch diese Vertragsärzte eine Genehmigung der Verordnung bei der Krankenkasse beantragen. Hiermit soll dem Regress-Risiko vorgebeugt werden.
Von dem Antragsverfahren ausgenommen sind weiterhin Verordnungen im Rahmen der Spezialisierten ambulante Pflegeversorgung (SAPV). Bei der Allgemeinen ambulanten Palliativversorgung (AAPV) und im Anschluss an Krankenhausbehandlungen gilt weiterhin die Genehmigungspflicht. Hier muss die Krankenkasse innerhalb von drei Tagen über die Genehmigung entscheiden.
Wir empfehlen, sich die Genehmigung der Krankenkasse vom Patienten vorzeigen zu lassen und eine Kopie zu Dokumentationszwecken in die Patientenakte zu übernehmen.
Wenn keine Unterlagen vorliegen, empfehlen wir eine genaue Beurteilung des Einzelfalles und bei Unsicherheiten eine Genehmigung einzuholen.
Verordnung
In Deutschland gibt es aktuell drei zugelassene Fertigarzneimittel. Hierbei ist zwischen dem Einsatz innerhalb oder außerhalb der Zulassung zu unterscheiden (siehe Grafik):
a) Innerhalb der Zulassung laut Fachinformation
Innerhalb ihrer Zulassung können die FAM ohne vorherige Genehmigung der jeweiligen Krankenkasse verordnet werden.
b) Außerhalb der Zulassung der Fachinformation
Der Einsatz von Sativex® und Canemes® außerhalb der Zulassung erfolgt nach §31 Abs. 6 SGB V und den hier genannten Aspekten. Epidyolex® enthält CBD und muss außerhalb der Indikation als Off-label-use beantragt werden.
Bislang gibt es neun Rezepturformeln für die Verordnung im Deutschen Arzneimittel-Codex/Neuem Rezeptur-Formularium (DAC/NRF). Bitte beachten Sie die entsprechende Genehmigungspflicht vor der Verordnung:
1. Dronabinol-Zubereitungen
- Ethanolische Dronabinol-Lösung 10 mg/ml zur Inhalation (NRF 22.16.)
- Dronabinol-Kapseln 2,5 mg / 5 mg / 10 mg (NRF 22.7.)
- Ölige Dronabinol-Tropfen 25 mg/ml (NRF 22.8.)
2. Cannabisextrakt
- Ölige Cannabisölharz-Lösung 25 mg/ml Dronabinol (NRF 22.11.)
3. Cannabisblüten
- Cannabisblüten zur Inhalation nach Verdampfung (NRF 22.12.)
- Cannabisblüten in Einzeldosen zur Inhalation nach Verdampfung (NRF 22.13.)
- Cannabisblüten zur Teezubereitung (NRF 22.14.)
- Cannabisblüten in Einzeldosen zur Teezubereitung (NRF 22.15.)
Mit Ausnahme von Nabilon unterliegen alle Cannabis-Arzneimittel seit dem Cannabisgesetz (CanG) nicht mehr dem Betäubungsmittelgesetz. Damit ist eine Verordnung von Fertigarzneimitteln nach den üblichen Angaben auf Muster 16 oder eRezept möglich.
Bei den Cannabisblüten und -extrakten sowie bei Dronabinol handelt es sich in der Regel jedoch um Rezeptur-Arzneimittel. Bei diesen muss auf dem Muster 16 bzw. eRezept die Bezeichnung, soweit dadurch nicht eindeutig ein Produkt bestimmt ist, zusätzlich die Gewichtsmenge des enthaltenen Wirkstoffes, die Darreichungsform, die Menge des verschriebenen Produkts in Gramm sowie die Gebrauchsanweisung mit Einzel- und Tagesgabe angegeben werden.
Nabilon ist von den Änderungen durch das Cannabislegalisierungsgesetz unberührt. Nabilon unterliegt weiterhin dem BtMG und muss daher auf einem BTM-Rezept verordnet werden.
Wirtschaftlichkeit
In der Arzneimittel-Richtlinie wurde niedergelegt, dass Cannabisblüten und -extrakte gegenüber Fertigarzneimitteln (wie z.B. Sativex®) und Dronabinol nachrangig sind. Die Verordnung von Cannabisblüten ist nach den oben genannten Kriterien zu begründen. Auch das Bundesozialgericht und die allgemeine Rechtsprechung konkretisieren diesen Vorbehalt.
Die Arzneimittelvereinbarung 2024 verweist in ihrem Qualitativen Ziel Nummer 27 auf die vorrangige Verordnung von Fertigarzneimitteln oder standardisierter Zubereitungen und bittet ggf. Genehmigungsverfahren zu beachten (s. InVo).
Empfehlungen
Um eine sichere Verordnung zu tätigen, empfiehlt Ihnen die Arbeitsgruppe der Verbände der Krankenkassen Westfalen-Lippe, des Medizinischen Dienstes Westfalen-Lippe und der KVWL vorab die Indikation und die oben genannten Kriterien zum Einsatz von Cannabis genau zu prüfen.
Auch im Vertretungsfall empfehlen wir Ihnen eine eindringliche Prüfung. Auch wenn der Genehmigungsvorbehalt für Ihre Fachgruppe entfällt, sollten Sie im Einzelfall vorab eine Genehmigung der jeweiligen Krankenkasse einholen. Bitte beachten Sie außerdem, dass für eine sichere Verordnung Cannabisblüten und -extrakte gegenüber Fertigarzneimitteln und Dronabinol nachrangig sind.
Wir empfehlen, für den Antrag den Arztfragebogen zu Cannabinoiden nach §31 Abs. 6 SGB V zu nutzen.