„Sucht ist keine Charakterschwäche, Sucht ist eine Krankheit“

Die Substitution ist ein hochgradig sinnvolles, spannendes und breitgefächertes Feld der Medizin

Hydrocodone Pills and Prescription Bottles Under Spot Light.
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Substitution aus Überzeugung: Karl Arne Faust (53), Facharzt für Allgemeinmedizin, niedergelassener Hausarzt aus Detmold und Mitglied der KVWL-Vertreterversammlung, substituiert seit vielen Jahren in seiner Praxis. Im Gespräch mit KVWL-Redakteur Michael Hedergott erläutert er seine Beweggründe. 

Die vorliegende Broschüre „Substitution! Warum es zu dieser Therapie keine Alternative gibt“ soll Ärzten den Einstieg ins Thema erleichtern. Denn immer weniger Niedergelassene wollen substituieren. Was sind aus Ihrer Sicht dafür die Gründe?

„Obwohl es die Substitutionstherapie inzwischen seit über 30 Jahren gibt und diese eine Erfolgsgeschichte darstellt, halten sich dennoch hartnäckig Vorurteile. Bei vielen Medizinern haben Suchtpatienten spätestens seit dem Film „Christiane F.“ ein schlechtes Image. Des Weiteren haben etliche Berichte über Substitutionsmediziner, die durch ihre Tätigkeit in den Fokus der Strafverfolgungsbehörden geraten sind, zur weiteren Verunsicherung vieler Ärzte geführt.

Auch Aussagen wie: „Die Arztpraxis soll ein sicherer Ort sein“ oder die Angst vor einem Imageverlust der Praxis führen oft zu unwillkürlichen Berührungsängsten. Einige fragen sich, ob ein Suchtpatient überhaupt wartezimmerfähig ist. Die kritischen Aussagen gipfeln mitunter sogar in dem Vergleich des Substitutionsmediziners als einem „Dealer in Weiß“. Dann halten sich auch die aus der Anfangszeit der Substitution stammenden Erfahrungen mit einem sehr bürokratischen, formal aufwändigen Ablauf der Therapie und unsicheren rechtlichen Rahmenbedingungen sehr hartnäckig.

Diese vielen negativ kolportierten Aspekte lassen vielfach in den Hintergrund treten, dass Suchterkrankungen auf einer Fehlsteuerung des Belohnungssystems im Gehirn basieren. Inzwischen weiß man sehr gut, dass über die besonders starke Aktivierung verschiedenster Botenstoffe im Gehirn durch Suchtmittel das Suchtverhalten induziert wird. Molekulare Veränderungen im Dopaminsystem des Gehirns sind klar nachweisbar. So handelt es sich also bei einer Sucht nicht um eine Charakterschwäche, sondern um eine echte Krankheit, die im Gehirn auch nachgewiesen werden kann.                      

Bei unbehandelten Verläufen stoffgebundener Suchterkrankungen ist das Sterberisiko nach verschiedenen Untersuchungen mindestens 11,2-fach erhöht und damit durchaus vergleichbar mit vielen anderen schwerwiegenden und zum Teil lebensbedrohlichen Erkrankungen.

Die Substitution ist daher ein hochgradig sinnvolles, dazu sehr spannendes und breitgefächertes Feld der Medizin. Im Rahmen dieser Tätigkeit hat man es mit einer Klientel zu tun, welches sehr dankbar, aber im Umgang mitunter schwierig ist. Der Umgang mit Substitutionspatienten lässt sich jedoch verhältnismäßig leicht erlernen."

„Zum Glück hat in der Substitution inzwischen ein Paradigmenwechsel stattgefunden“

Karl Arne Faust
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Sie substituieren in Ihrer Praxis seit vielen Jahren. Inwiefern haben sich in dieser Zeit die damit verbundenen Auflagen und Rahmenbedingungen geändert? Ist der bürokratische Aufwand, den viele Ärzte mit der Substitutionstherapie verbinden, geringer geworden?

„Zum Glück hat in der Substitution inzwischen ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Die zuvor auf reine Abstinenz abgestellten Therapieziele wurden angepasst. So ist inzwischen die Abstinenz von Betäubungsmitteln und erlaubt erworbenen Opioiden nicht mehr das vorrangige Ziel. Stattdessen stehen nun die Überlebenssicherung, die Stabilisierung des Gesundheitszustandes sowie die Behandlung von Begleiterkrankungen und die Reduktion von gefährlichem Beigebrauch klar im Vordergrund.

Darüber hinaus wurden durch Änderungen der gesetzlichen Vorgaben sowie die Stärkung der Richtlinienkompetenz der BÄK mehr Möglichkeiten in der Gestaltung der Substitutionstherapie geschaffen. Die Substitution berücksichtigt inzwischen also deutlich stärker die Lebensrealität der Patienten. Die Take-Home-Verordnung wurde auf bis zu 30 Tage ausgeweitet. Durch die Präzisierung des Abhängigkeitsbegriffes auf Opioide – statt Opiate – ist inzwischen die Substitution auch bei synthetischen Opioiden möglich.

Ebenso wurde die Substitution von Patienten ohne aktuellen Opiatkonsum, aber mit hohem Rückfallrisiko ermöglicht – zum Beispiel Inhaftierte – und es wurde die Substitution in stationären medizinischen Versorgungseinrichtungen jeglicher Art sowie die Substitution bei Hausbesuchen möglich. In den letzten Jahren legten mehrfache Anpassungen und  Erleichterungen in der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) die aktuelle Grundlage für rechtssicheres Handeln in der Substitution. Zum Beispiel ist jetzt schon seit 2017 die Ausweitung der Patientenzahlen von bislang drei auf zehn Patienten bei suchtmedizinisch nicht qualifizierten Ärzten möglich.

Es bestehen inzwischen auch deutlich weniger Melde- und Dokumentationspflichten. Lediglich die Meldepflicht der Patienten bei der Bundesopiumstelle ist geblieben. Und auch die Kommission zur Qualitätssicherung hat mehrfach den Aufwand in der Dokumentation bei den Stichprobenprüfungen reduziert und unterstützt die Substitutionsmediziner mit standardisierten, einfachen Formularen.

Inzwischen steht erfreulicherweise auch ein breites Portfolio an Medikamenten für die Substitutionstherapie zur Verfügung, um auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Patienten bedarfsgerechter therapeutisch eingehen zu können."

„Die Therapie findet immer in einem Netzwerk statt“

Stressed and depressed patient seeking help from psychiatrist. Unveiling
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Welche konkreten Tipps können Sie Kollegen geben, die die Substitution in ihrer Praxis anbieten möchten. Wie legt man am besten los?

„Am Anfang steht zunächst einmal die Entscheidung als Mediziner zu einer Teilnahme an der Substitutionstherapie. Es braucht dafür zu Beginn auch sicherlich ein bisschen Mut, mit der Behandlung von Suchtpatienten in der eigenen Praxis loszulegen. Allerdings steht man als Mediziner zum Glück nicht ganz alleine vor dieser Aufgabe, da die Therapie ja immer in einem Netzwerk aus Ärzten, MFA sowie psychosozialer Betreuung und weiteren Disziplinen stattfindet. Inzwischen existieren gerade für den Einstieg in die Substitutionstherapie vielfältige gute Handreichungen und Fortbildungsmöglichkeiten.

Arbeitshilfe: Warum es zu dieser Therapie keine Alternative gibt

Ein gutes Beispiel dafür ist die aktuell erstellte Substitutions-Broschüre für Ärzte. Sie dient vorrangig der schnellen und umfassenden Information von Ärzten, die an der Konsiliarregelung für Substitutionstherapie teilnehmen wollen. Des Weiteren steht die jederzeit ansprechbare Qualitätssicherungskommission der KVWL für jegliche Fragen rund um die Substitution mit Rat und Tat zur Verfügung.

Auf Wunsch können darüber hinaus vielfältige Möglichkeiten zur Hospitation in einer der Substitutionspraxen für den weiteren Wissenstransfer vermittelt werden. Es empfiehlt sich zu Beginn eine Kontaktaufnahme zu Substitutionspraxen in der Umgebung für die konsiliarische Begleitung sowie zu der örtlichen Drogenberatungsstelle. Starten Sie mit wenigen ausgewählten Patienten, zum Beispiel aus dem eigenen Patientenstamm Ihrer Praxis. Deshalb: Bitte helfen Sie mit und nehmen Sie an der seit über 30 Jahren existierenden Erfolgsgeschichte der Substitution teil! Denn sie hilft den drogenabhängigen Menschen, sich gesundheitlich und sozial zu stabilisieren und auch beruflich wieder Fuß zu fassen. Der Lohn für uns sind vielfach sehr dankbare Patienten. Bitte trauen Sie sich, den ersten Schritt zu gehen und tragen Sie mit Ihrem Handeln dazu bei, die Substitutionstherapie für unsere bedürftigen Patienten auch in der Zukunft flächendeckend in Westfalen-Lippe sicherzustellen."

Das Interview ist zuerst in der KVWL kompakt mit "praxis intern" (Nr. 1/2024) erschienen. Weitere Themen im Heft: Wir stellen die unterschiedlichen Kommunikationskanäle der KVWL in Richtung ihrer Mitglieder vor – von Print über Bewegtbild bis hin zu Social Media. Und wir erklären, wie Zentren für Seltene Erkrankungen bei der Behandlung von Patienten helfen können.

Lesen Sie die gesamte Ausgabe: 
KVWL kompakt mit "praxis intern" (Nr. 1/2024)